MPG und Pro-Physik:

Verwandter einer Aminosäure im All entdeckt

Mit einer 30-Meter-Antenne in der spanischen Sierra Nevada und zwei Radioteleskop-Netzwerken in Frankreich und Australien haben Forscher des Bonner Max-Planck-Instituts für Radioastronomie erstmals den nahen Verwandten einer Aminosäure aufgespürt: Aminoacetonitril. Das organische Molekül fand sich in der "Heimat der großen Moleküle", einer gigantischen Gaswolke nahe des galaktischen Zentrums im Sternbild Schütze (Astronomy & Astrophysics, im Druck).

Die "Heimat der großen Moleküle" erscheint als sehr dichter, heißer Gasklumpen innerhalb des Sternentstehungsgebiets Sagittarius B2. In diesem Klumpen von gerade einmal 0,3 Lichtjahren Durchmesser, der von einer tief im Innern verborgenen jungen Sonne aufgeheizt wird, fanden sich die meisten der bisher im Weltraum nachgewiesenen organischen Moleküle - darunter so komplexe Verbindungen wie Äthylalkohol, Formaldehyd, Ameisensäure, Essigsäure, Glykolaldehyd und Äthylenglykol.

Sagittarius B2 - Die Heimat der großen Moleküle

Zwar wurden in der Tat eine Reihe von neuen Molekülen in kalten Dunkelwolken gefunden, doch wurden während des letzten Jahrzehnts überraschenderweise immer mehr komplexe Moleküle in unmittelbarer Umgebung extrem leuchtkräftiger, massereicher Protosterne entdeckt. Diese Objekte sind noch tief eingebettet in dichtes, warmes, plazentales Material, welches von ihrer Entstehung übrig geblieben ist. Weshalb kann man dort solche Mengen an komplexen Molekülen beobachten? Man nimmt an, dass chemische Reaktionen in den Eismänteln von Staubkörnern, auf denen auftreffende einfache Moleküle haften bleiben, komplexe Verbindungen mit hoher Effizienz erzeugen. Sobald der Stern zündet, wird das Eis verdampft, und die Moleküle gelangen in die Gasphase.

Eine der prominentesten dieser Molekülquellen befindet sich im Kern der Riesenmolekülwolke Sagittarius B2, in der sich eines der aktivsten Sternentstehungsgebiete unserer Galaxis befindet. Nur 400 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt (Abb. 2), finden sich in einem dichten, über 200 K heißen Kern mehr komplexe Molekülsorten als in jeder anderen bekannten Region. Prof. Lewis Snyder (University of Illinois, ehemaliger  Humboldt-Forschungspreisträger am MPIfR), einer der erfolgreichsten Moleküljäger, hat (voller Stolz auf seine deutschen Ursprünge) diese Quelle "Large Molecule Heimat" (LMH) getauft. Dort wurden neben Alkoholen und Formaldehyd z. B. Ameisensäure, Essigsäure, Azeton, Glykoaldehyd (der einfachste Zucker) und Ethylenglykol entdeckt.

 

Abb. oben: Rechts sehen wir Radiostrahlung der Wellenlänge von 90 cm (330 MHz) aus dem innersten Bereich der Galaxis. Staubemission aus den dichten, heißen Kernen des Sternentstehungsgebiets in der Molekülwolke Sagittarius B2 ist links zu sehen. Diese Karte wurde bei einer Wellenlänge von 0.350 mm (850 GHz, mehr als 2000 mal kürzer als die der Radiokarte) mit dem 10-m-Teleskop des Caltech Submillimeter Observatory auf Mauna Kea, Hawaii, aufgenommen. Die Large Molecule Heimat ist assoziiert mit der nördlichen Quelle (oben im Bild). Längenskalen in Lichtjahren sind durch Balken markiert. Auch wegen seiner Lage am Südhimmel wird das galaktische Zentrum eines der interessantesten Objekte für APEX sein. (M = Main, LJ = Lichtjahr, RA offset (arcsec) = Abstand in Rectaszension in Bogensekunden, DEC offset = Abstand in Deklinatin in Bogensekunden).

Urheber: Max-Planck-Institut für Radioastronomie 

"Seit 2003 analysieren wir den gesamten mit dem 30-m-Teleskop von IRAM (Abb. 1) beobachtbaren Frequenzbereich in systematischer Weise. Bei solchen Durchmusterungen, in denen unsere Gruppe große Erfahrung hat, wird der ganze von einem Empfänger überdeckte Bereich mit gleichmäßigem Rauschpegel beobachtet. Bislang wurde das Intervall von 75 - 110 Gigahertz (2.7 - 4 mm) durchgekämmt. Die Komplettierung bis 116 GHz, der Obergrenze des so genannten "3-Millimeter-Fensters", ist im Gange.

In diesem Bereich haben wir viele Hunderte Spektrallinien entdeckt, wovon ein großer Teil zurzeit noch nicht identifiziert ist (Abb. 3). In einer konzertierten Aktion mit dem Spektroskopielabor der Universität zu Köln versuchen wir, diese "U-Linien" zu identifizieren. Eines der Ziele dabei ist es, neue Spezies wie z.B. Aminoacetonitril (NH2CH2CN, chemisch gesehen eine Vorstufe von Glyzin) aufzuspüren.

Bisher nicht identifizierte Moleküle haben in der Regel eine geringe Häufigkeit und daher nur schwache Spektrallinien. Um eine sichere Identifikation zu gewährleisten ist es also erstens nötig, möglichst viele Linien der Kandidaten-Spezies zu beobachten, wobei deren relative Intensitäten durch eine Temperatur zu beschreiben sein müssen. Zweitens braucht man Labordaten für möglicherweise "kontaminierende" Molekülsorten. Die Entscheidung, welche Spezies berücksichtigt werden müssen, sowie die Durchführung der relevanten Messungen sind schwierige, aber nicht unlösbare, Probleme.

 

Eine riesige organische Molekülwolke um das galaktische Zentrum

In "normalen Molekülwolken" findet man räumlich ausgedehnte Emission praktisch nur bei dem relativ häufigen und leicht zu beobachtenden Molekül Kohlenmonoxid (CO). (Das mit Abstand häufigste Molekül, H2, strahlt unter Normalbedingungen praktisch gar nicht.) Nach vorherrschender Meinung treten komplexe Moleküle nur in dichten, heißen Kernen auf. Entsprechend überrascht waren wir, als wir sehr starke Emission von Methylalkohol (CH3OH) in der gesamten galaktischen Zentrumsregion, in der man CO sieht, beobachten konnten, d.h. insb. im ganzen Bereich der Radioemission (Abb. 2). Das Gas in dieser Region ist mit 200 K viel heißer als in typischen Molekülwolken (20 - 30 K)."

Eine denkbare Ursache der hohen Methanolhäufigkeiten in der Gasphase wäre wiederum die Verdampfung von Eiskornmänteln. Wie solch große Mengen an Methanol und, wie weitere Messungen zeigen, anderen, und sogar komplexeren Molekülen, in Staubkornmänteln angereichert werden können, ist noch ungeklärt, ebenso der hochenergetische Mechanismus, mit dem das Gas großräumig auf die zur Verdampfung nötigen Temperaturen aufgeheizt wird. Durch Wolkenkollisionen erzeugte Schockwellen sind eine Möglichkeit.



Fahndung nach Lebensbausteinen


Von 1965 bis heute wurden mehr als 140 verschiedene Moleküle im Weltall identifiziert, sowohl in interstellaren Wolken als auch in ausgedehnten Hüllen um Sterne. Ein Großteil davon ist organisch, das heißt, auf Kohlenstoffbasis aufgebaut. Besonders intensiv fahnden die Forscher nach sogenannten Biomolekülen - und dabei speziell nach Aminosäuren, den unabdingbaren Bausteinen des Lebens. Aminosäuren ließen sich bereits in Meteoriten auf der Erde nachweisen, nicht aber im interstellaren Raum.

Nach der einfachsten Aminosäure Glycin (NH2CH2COOH) wurde in kosmischen Quellen bereits lange, doch bisher vergeblich gesucht. Angesichts dieser Schwierigkeiten konzentrierte sich die Fahndung auf Aminoacetonitril (NH2CH2CN), einen chemischen Verwandten und möglichen direkten Vorläufer von Glycin.

Ein dichter Wald aus Spektrallinien

So nahmen die Wissenschaftler des Bonner Max-Planck-Instituts für Radioastronomie die "Heimat der großen Moleküle", wie die Quelle unter Fachleuten genannt wird, ins Visier und durchforsteten mit dem IRAM 30-Meter-Teleskop in Spanien einen dichten Wald von 3700 Spektrallinien komplexer Moleküle. Atome und Moleküle leuchten nur bei ganz speziellen Frequenzen, die als charakteristische Linien im Spektrum der Gesamtstrahlung auftreten.

Durch die Analyse solcher Spektrallinien lässt sich aus der Radiostrahlung einer kosmischen Wolke auf deren chemische Zusammensetzung schließen. Je komplexer ein Molekül, desto mehr Möglichkeiten hat es, seine interne Energie abzustrahlen. Deshalb emittieren komplexe Moleküle sehr viele Spektrallinien, die allerdings alle recht schwach sind und sich daher im "Linien-Dschungel" schwer identifizieren lassen. 

Kontrolle mit zwei Netzwerken

"Trotzdem gelang es uns schließlich, 51 sehr schwache Linien eindeutig dem Molekül Aminoacetonitril zuzuordnen", sagt Arnaud Belloche, Max-Planck-Wissenschaftler und Erstautor der Publikation in Astronomy & Astrophysics. Bestätigt wurde das Ergebnis bei zehnfach höherer räumlicher Auflösung durch Beobachtungen mit zwei Radioteleskop-Netzwerken: dem Plateau-de-Bure Interferometer in Frankreich sowie dem Australia Telescope Compact Array. Mit diesen Messungen zeigten die Forscher, dass alle registrierten Linien tatsächlich vom selben Ort innerhalb der "Heimat der großen Moleküle" stammen. Belloche sieht das als "zwingenden Beweis für die Glaubwürdigkeit unserer Identifikation".

"Die Entdeckung von Aminoacetonitril hat unser Verständnis der chemischen Vorgänge in dichten, heißen Sternentstehungsgebieten deutlich erweitert. Ich denke, wir werden in Zukunft viele weitere, noch komplexere organische Moleküle im interstellaren Gas nachweisen können. Mehrere Kandidaten haben wir schon!", sagt Karl Menten, Direktor am Max-Planck-Institut für Radioastronomie und Leiter der Forschungsgruppe "Millimeter- und Submillimeterastronomie"


IRAM, das Institut für Radioastronomie bei Millimeter-Wellenlängen, ist ein deutsch-französisch-spanisches Forschungsinstitut, das ein 30-Meter-Radioteleskop auf dem Pico Veleta in knapp 3000 Meter Höhe in der spanischen Sierra Nevada betreibt, außerdem ein aus sechs Einzelteleskopen bestehendes Radiointerferometer auf dem Plateau de Bure in den französischen Alpen nahe Grenoble. Beide Instrumente kamen bei der Entdeckung von Aminoacetonitril im Weltraum zum Einsatz.

ATCA, das Australia Telescope Compact Array, ist ebenfalls ein Radiointerferometer, bestehend aus sechs Teleskopen, das etwa 25 Kilometer westlich des Ortes Narrabri im australischen Bundesstaat New South Wales zu finden ist. Die Anlage wird von der Australia Telescope National Facility in Sydney betrieben. 

[MPG / HOR/NJN]


Weitere Infos: 

  • Originalveröffentlichung:
    Belloche, K. M. Menten, C. Comito, H. S. P. Müller, P. Schilke, J. Ott, S. Thorwirth, C. Hieret, Detection of amino acetonitrile in Sgr B2(N)
    Astronomy & Astrophysics (im Druck), [DOI 10.1051/0004-6361: 20079203]